Staatliche Mores anno 1946
Vorwort
Zufälligerweise bin ich neulich auf einen Text gestossen, der sich zur Liebe, Ehe und Familie äussert und der mich derart beeindruckt hat, dass ich in an dieser Stelle wiedergeben muss.
Die Tatsache, dass dieser Text aus den 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts stammt, schmälert dessen Gehalt und Sinnhaftigkeit in keinster Weise. Ganz im Gegenteil: in der hektischen Gegenwart sind Worte wie die nachfolgenden manchmal eine wahre Wohltat und – so wohl auch deren Absicht – fordern den Leser zum Nachdenken auf.
Der nachfolgende Text ist Teil des „Familien-Büchleins“ meiner Eltern und wurde den Brautleuten jener Zeit mit auf den Lebensweg gegeben. Da wurde den Leuten noch echt ins Gewissen geredet und die (Aus)Wirkungen ihres Tuns anschaulich vor Augen geführt. Vergleichbar wie bereits Gevatter Schiller mit seinen markigen Worten im „Das Lied von der Glocke“ festhielt: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, // Ob sich das Herz zum Herzen findet. // Der Wahn ist kurz, die Reu’ ist lang.“...
Liebe - Ehe - Familie
Gefunden im Familien-Büchlein der Schweizerischen Eidgenossenschaft, ausgestellt vom Kanton Bern anno 1946, Text stammt von Maria Waser (1878-1939).
Wie im Gefängnis lebt der vereinzelte Mensch, der, auf sich selbst beschränkt, in sich befangen, den Weg zum Andern nicht findet.
Liebe entriegelt das Gefängnis, weitet das Ich zum Du. Wahre Liebe baut den Weg aus der Einsamkeit zur Gemeinsamkeit.
Wahre Liebe ist ein Gnadengeschenk des Himmels, ihre Erfüllung bedeutet das höchste menschliche Glück. Wem solches zuteil wird, der hat die Aufgabe, sich dessen würdig zu machen.
Wer sich zur Ehe entschliesst, bezeugt den Willen, sich seiner Liebe würdig zu machen durch die Treue, bezeugt den Wunsch, seinem Glück die Dauer des eigenen Lebens zu geben.
Höchstes Glück ist immer nur das Geschenk einer begnadeten Stunde. Zwischen diesen hohen Augenblicken liegt der Sorgenweg des Alltags. Dass man auf den Alltagswegen nicht erlahmt, nicht unwert wird der begnadeten Stunden, darin liegt das Geheimnis der glücklichen Ehe.
Gegenseitiges Wohlwollen, Achtung vor der Eigenart und Freiheit des Andern, der Wille, das Andere immer besser zu verstehn, sich heimisch zu machen in seiner Welt, der Wunsch, dem Andern zu Liebe und nicht zu Leid zu leben; dieses sind die Schlüssel zum Geheimnis der guten Ehe. Wer solches Wohlwollen nicht aufbringt, wer seinen Willen über den des Andern setzt, wer in der Ehe seine Art zur geltenden, seine Welt zur herrschenden machen will, der gleicht dem Menschen, der nach einem Gang in die Freiheit sich selbstwillig in sein Gefängnis zurückzieht und es mit eigener Hand von innen verschliesst. An ihm muss jede Ehe zuschanden werden; denn nur, wer sich selber schenken kann, verdient das Geschenk des Lebens.
Wer in die Ehe tritt mit dem Willen, eine Familie zu gründen, knüpft sein kleines vergängliches Leben an das grosse unvergängliche der Menschheit. Er gibt seinem Dasein Bedeutung und Zukunft.
Im Kinde verbinden sich die beiden Welten von Vater und Mutter zu einer neuen. Die Art, wie sie sich in dieser neuen Welt finden, ob sie zur Einheit werden oder getrennt bleiben und sich bekämpfen, entscheidet über Wesen und Glück des Kindes, entscheidet darüber, ob es ein in sich geeinter, fruchtbarer oder ein zerrissener, unfruchtbarer Mensch wird. Am Kinde offenbart es sich, ob das Verhalten der Eltern durch verständnisvolles Entgegenkommen bestimmt wurde oder durch Eigensinn.
Im Kinde wird es offenbar, ob die Familie eine bloss äusserliche Zusammenfügung von Menschen gleichen Namens darstellt oder eine Gemeinschaft Verwandter, deren Verhältnis durch Liebe bedingt, durch Verständnis geregelt, durch gegenseitiges Vertrauen gestärkt wird.
Schützende Zuflucht vor den Feindseligkeiten der äussern Welt, ein freundlicher Bezirk der Sammlung, Stärkung und Freude, wo einer den Glauben an sich selbst und an die Andern immer wiederfindet; so beschaffen muss der Ort sein, der dem Menschen zum Heim werden kann.
Die Hüterin des Heims ist die Mutter. Ihr kommt es zu, den guten Geist zu hegen, durch Geduld, Einsicht und Güte das Einverständnis aller zu fördern. Aber beide Eltern müssen zusammenwirken, damit das Vaterhaus eine Kraftquelle wird für das kommende Geschlecht, damit der neue Stamm zur Stütze wird am Bau der Volksgemeinschaft. Es ist ein Grosses und sollte dem Menschen das Heiligste sein, weil es das Verantwortungsvollste ist, wenn zwei den Bund fürs Leben schliessen mit dem Willen, ein neues Geschlecht zu gründen. Ihr Bund wird gesegnet sein in ihnen und ihren Nachkommen, wenn dies der Leitstern ihres Wandels ist:
Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Lebens.